Vom Allgemeinen & Vagen
Eine Dame mit einem Packen Broschüren in der Hand fragt, ob sie mir eine Information geben könne. „Nein, danke“, erwidere ich. Es gäbe schon so viele Informationen, ich sei gerade dabei, diese Flut zu begrenzen. Aber, dies wäre eine wichtige Information, beharrt sie. Der Höflichkeit halber frage ich, um was für eine Information es sich denn handele. Das, sagt sie strahlend, stehe hier drinnen und tippt mit dem Finger auf die oberste Broschüre.
Etwas leiser, dafür aber eindringlicher fügt sie hinzu, es gehe um meine Zukunft. „Meine Zukunft?“ wiederhole ich und will wissen, woher sie diese denn kenne. Nein, antwortet sie – unsicher nun – nicht direkt meine Zukunft, die Zukunft im Allgemeinen. „Ach so“, entgegne ich. „Dann vielen Dank, vom Allgemeinen und Vagen habe ich genügend.“
Treffen mit Kafka oder wie ich beinah die Literaturgeschichte verändert hätte
Des Öfteren komme ich während meiner Stadtspaziergänge an der Grunewaldstraße 13 vorbei. Dort lebte Franz Kafka von November 1923 bis Februar 1924. Alles klar soweit und ich berichtete an anderer Stelle ja auch schon ein- bis zweimal darüber (übrigens: die Erinnerungstafel ist immer noch dieselbe, weiße Schrift auf weißem Grund, unlesbar schon ab einem Abstand von vier Metern).
Nun aber das Folgende: Wie ich also näherkomme, geht die Türe auf und ein Mensch tritt heraus. ‚Natürlich‘, denke ich, ‚Kai – da leben Menschen. Heutige Menschen.‘ Während der Mann also die Treppe hinuntersteigt und den kurzen Weg zum Gartentor einschlägt, durchfährt es mich wie ein Blitz: Das ist Kafka. Halt, halt. Kafka ist tot. Und doch, er ist es. Jetzt habe ich keinen Zweifel mehr.
Ich nehme also allen Mut zusammen (ich mache so etwas sonst gar nicht) und spreche ihn an. Zögerlich. „Herr Kafka …?“ Er bleibt stehen, schaut sich um: „Mein Herr, kennen wir uns?“ Die großen Augen und der Hut. Genau wie auf dem Foto. Was fehlt, ist etwas Farbe. „Nein, also, ich … ich bewundere Sie, Ihr Werk … die Kurzgeschichten …“ Nun schaut er überrascht und lächelt unsicher. Und auch ein wenig schelmisch. „Ach, diese Kleinigkeiten kennen Sie?“
„Kleinigkeiten? Und die Romane! Das Schloß. Der Prozeß! Eines meiner Lieblingsbücher. Ich lese es wieder und wieder …“ Kafka ist nun sichtlich aufgebracht. „Die Romane? Aber wieso, woher …“ – „Nun, Sie sind doch Franz Kafka. Die ganze Welt kennt Ihr Werk …“ Kafka blinzelt irritiert. „Mein Werk? Die ganze Welt?“ Er starrt mich an. Und ich frage, was wohl jeder fragen würde: „Sind Sie denn zufrieden mit der Anordnung der Kapitel? War das in Ihrem Sinne, so gedacht? Hat Max Brod die richtige Zusammenstellung gefunden?“
„Max? Ach, Max …“ Und er weicht zurück, vor Schreck und völlig aufgelöst. Lüftet den Hut. „Mein Herr verzeihen Sie, ich muss unser Gespräch beenden.“ Schon ist er durch das Gartentor und auf der Treppe. Die Haustür fällt ins Schloss. Ich stehe da und bin erschüttert.
Der Bus hinter mir schreckt mich auf. Stört das Bild. Was habe ich getan? Mit ungutem Gefühl stürme ich nach Hause. Suche im Regal. Doch nirgends ist „Das Schloß“, „Der Prozeß“ oder „Der Verschollene“ zu finden. Nur der Band mit den Kurzgeschichten steht noch am alten Platz. Ich schaue nach im Netz. Auch da kein Wort zu den Romanen.
Kafka ja, aber eher als Unvollendeter. Literarische Randfigur des frühen 20. Jahrhunderts. Und ein gewisser Max Brod, Jugendfreund und langjähriger Begleiter seines „literarischen Schaffens“, berichtet von vernichteten Manuskripten, die der Autor – also Kafka – eigenhändig allesamt einige Monate vor seinem Tod und kurz nach einem Berlinaufenthalt verbrannt hat. Ich muss schlucken. Mache die Augen auf.
Neben mir liegt der letzte Band der wunderbaren Kafka-Biografie von Stach. Alles gut, denke ich. Alles gut.