von Cairo Reininghaus
Dass Herr Müller und ich schon lange Zeit musikalisch immer wieder zusammenkommen (Reininghaus, Real Deal, Tirsa Perl), ist vielleicht bekannt. Im Orwell’schen Jahr 1984 ging das los. In Erfurt (aber das sind andere Geschichten). Auch 2023 gab es wieder einige gemeinsame Sessions in unserem Hauptquartier „Müller’s Boutique“, im Leipziger Stadtteil Schleußig.
Natürlich waren wir dabei nicht allein – Afi Fischer unterstützt uns seit 2018 am Bass. Spontan kamen im August und September Frieder und Frank dazu. Wir spielten mit unseren Songs, die grobe Richtung war vorgegeben, alles andere konnte sich entwickeln, aus dem Moment heraus entstehen. Manchmal funktionierte es besser, manchmal nicht so gut. Völlig normal. Aber manchmal passierte etwas, was sich schwer beschreiben lässt. Diese magischen Momente wollen wir mit euch teilen.
PS: Die Beiträge erschienen erstmals ursprünglich auf Facebook.
Track 1: Stealing Dreams
Diesen Song haben wir am 11. August 2023 aufgenommen. Ich war, wie immer, schon recht früh in Berlin gestartet und gegen 13.30 Uhr in Leipzig. Das mag ich, noch etwas Zeit so für mich zu verbringen. Da gibt es den Vietnamesen in der Nähe, wo ich gern etwas esse, und das kleine Café ein Stück weiter, von wo ich das Treiben beobachten kann. Wieder ein wenig eintauche in diese Stadt, die so wichtig in meinem Leben war. Hier begann (nach ersten zaghaften Versuchen und Anläufen in meiner alten Thüringer Heimat) mein Weg als Musiker, hier habe ich meine Frau kennengelernt, hier ist unser Sohn geboren. Das ist lange her und das Land, indem diese Stadt damals lag, gibt es gar nicht mehr. Und doch, ist das alles nicht vergessen, natürlich nicht. Leipzig wird immer ein Teil von mir sein. Zurück ins Jahr 2023.
Herr Müller und ich hatten die Technik vorbereitet (ich bringe immer eine ganze Wagenladung mit) und uns schon mal ein wenig eingespielt. Gegen 19.00 Uhr kam Frieder. Mit ihm hat Müller einige Zeit in einer anderen Band gespielt, ich habe ihn auch schon kennengelernt, als er uns einmal bei einem alten Real-Deal-Song an der Orgel begleitet hat. Aber das ist nur eine kurze Episode und zehn Jahre her.
Frieder also. Kommt herein mit seinem Geigenkasten auf dem Rücken und einem Keyboard unterm Arm. Wir verkabeln ihn und fangen dann an, uns musikalisch kennenzulernen. Spielen irgendetwas. Schließlich wird es konkreter. Müller schlägt vor, dass wir einen unserer neuen Songs versuchen sollten. Stealing Dreams. Den habe ich Ende 2020 geschrieben und es gibt eine Version davon digital (The Phonehead Music Club). Wir spielen Frieder den Song vor, was mir immer etwas schwerfällt, also anderen Musikern meine Songs darzubieten. Da bin ich – im Gegensatz zu Konzerten – eher schüchtern.
Frieder aber scheint „Stealing Dreams“ zu gefallen. Und er kennt einige meiner Songs. Aus dem Internet wohl und von Müller. Er meint, meiner Lieder wären perfekt als Abspannmusik von Filmen. Ich nehme das als Kompliment. Frieder muss es wissen, denn er arbeitet als Sounddesigner.
Wir spielen den Song, einige Male durch. Nehmen eine Version mit Klavierbegleitung auf. Und die nächste ist die, die ihr hier hören könnt. Frieder spielt Violine und Klavier, wechselt also zwischendurch immer wieder das Instrument. Alles live und in einem Durchgang. Als der letzte Ton verklungen ist, ahnen wir, da ist etwas Besonderes entstanden. „Hast du das aufgenommen?“, fragt Müller bang. Ja, habe ich. Ich spule zurück und drücke „Play“. Wir schauen uns an. Wow. Wow! Aber alles, was wir sagen, ist: „Nicht schlecht!“. Und trinken erstmal ein Bier. Wissen, das lassen wir mal so stehen.
Wir nehmen den Song nicht noch einmal auf. Es gibt nur diese eine Version. Und sie ist magisch.
Track 2: Last Stand
LAST STAND. Aufgenommen haben wir den Song am 29.09.2023. Geschrieben habe ich ihn schon Ende 2021. Um was es geht? Um das Leben in einer besonderen Zeit. Um die Dinge, die passieren. Über Ängste. Verzweiflung. Und Hoffnung. Leider zeigen die Ereignisse der zwei Jahre, die seitdem vergangen sind, dass der Song aktueller ist, denn je. Hier eine Übertragung des englischen Originaltextes ins Deutsche:
Letztes Gefecht
Kai Reininghaus (2021)
Track 3: Dying In Tears
Es gibt Songs, die man vor Jahren geschrieben und schon viele Male gespielt hat, die einen immer noch überraschen. Das ist einer der Aspekte, die unsere Sessions so spannend machen. In diesem Fall geht es um DYING IN TEARS. Den haben wir mit unserer damaligen DDR-Indieband THE REAL DEAL auf unseren ersten Tape Anfang 1988 veröffentlicht. So weit so gut.
Die Luft, die Geräusche (ja, ja, die Straßenbahnen klingen mittlerweile anders), das Leben ringsherum, die Menschen? Auch die sind andere. Oder anders? Die Zeit bleibt nicht stehen, in Erinnerungen erstarrt. Das sind nur Bilder in unseren Köpfen. Der Proberaum war damals auch ein anderer, in einem verbotenerweise und illegal besetztem Abrisshaus. Das Haus gibt es nicht mehr, selbst die Straße hat einen neuen Namen bekommen.Zurück ins Hier und Jetzt. Frieder hört sich den Song an, setzt sich an die Orgel. Spielt ein wenig herum. Schlägt eine Richtung ein. Wir folgen ihm. Ja, denke ich. Das könnte funktionieren. Müller ist auch begeistert. Der ursprüngliche Post-Punk-New-Wave-Pop-Song verwandelt sich. Neues Etikett? Bar-Lounge-Atmosphäre mit Doors-Attitüde vielleicht. Wie auch immer. Ehe es zu perfekt wird, hören wir lieber auf. Wir wollen die spontane Unmittelbarkeit nicht zerstören. Eine Aufnahme muss genügen. Und es warten ja noch andere Songs …
Track 4: Es wird passieren
Es ist wieder soweit – ein neuer Song aus unseren Sessions wartet darauf, gehört zu werden. Aufgenommen haben wir ihn am 29. September 2023. Unser Gast an diesem Abend war Frank Heyner. Er war in der Stadt, hatte zwei Gitarren dabei und eine Mundharmonika. Ich glaube er ist nicht böse, wenn ich hier schreibe, dass er sehr aufgeregt war. Immerhin war es eine ganze lange Weile her, seitdem wir zuletzt zusammen musizierten.
Nach all den Jahren sind wir also für einige Stunden wieder zusammen. Frank wird am Ende sagen, dass es war, als hätten wir erst gestern das letzte Mal geprobt. Das stimmt. Es ist ein bisschen wie Radfahren – man verlernt es nicht wirklich. Die Monate damals in den 80iger Jahren waren intensiv, wir haben viel Zeit gemeinsam verbracht, zusammen musiziert.
ES WIRD PASSIEREN hat passenderweise einen deutschen Text (für REININGHAUS habe ich auch deutsche Texte geschrieben, das war so eine Phase), ist aber neu – im Original auf unserem letzten TIRSA PERL – Album (Strange Times) 2021 erschienen. Man kann ihn auf Streaming-Plattformen hören, auf Youtube gibt es auch ein Video.
Track 5: Black Is The Sea
Im Song selbst ist der Himmel blau. Also Sommer? Vielleicht. Allerdings ist die Szenerie trügerisch. Das Meer wird als „schwarz“ beschrieben. Und Boote mit Löchern drin waren mir schon immer nicht geheuer. Wie auch? Und es kommt, wie es kommen muss. Aber möglicherweise ist es ein fröhlicher Untergang. Delfine sind nämlich auch mit dabei. Die haben Spaß. Anders die Fische am Meeresgrund, die wittern Beute. Naja. Malt euch selbst ein Bild.